Von der Behirtung zur Freibeweidung und zurück?
Einleitung
Die Almwirtschaft im Alpenraum ist ein entscheidender Bestandteil der Kulturlandschaft, trägt wesentlich zur Biodiversität bei und hat ökonomische Bedeutung für Tourismus und die ländliche Wirtschaft. Die traditionelle Form der Almbeweidung mit Hirten sicherte über Jahrhunderte hinweg die Offenhaltung der Landschaft und förderte eine hohe Artenvielfalt.
Seit den 1950er Jahren führte ein tiefgreifender Wandel in der Landwirtschaft jedoch zu einer Abkehr von der intensiven Behirtung hin zur extensiven Freibeweidung mit reduzierter Kontrolle (Blaschka, 2014). Diese Veränderung hatte direkte ökologische und wirtschaftliche Auswirkungen: Viele Almen wurden aufgegeben, die Weideflächen verbuschten oder verwaldeten, und es kam zu einem Rückgang der Biodiversität (Praxishandbuch Wiederbelebung Almen, 2023).
Die moderne Diskussion über Almwirtschaft betont zunehmend die Wiederbelebung einer gelenkten Weideführung, um Biodiversität, Tourismusattraktivität und wirtschaftliche Tragfähigkeit der Almwirtschaft zu erhalten (Guggenberger et al., 2023). Gleichzeitig wird eine gesteigerte Behirtung zunehmend als effektive Schutzmaßnahme gegen die wachsende Population von Beutegreifern wie Wölfen und Bären betrachtet. Während das System der freien Weide und Nachschau jahrzehntelang als kosteneffiziente Alternative galt, steht es durch die Rückkehr der Beutegreifer nun vor erheblichen Herausforderungen (Grobe Abschätzung der Kosten einer Umstellung, 2023).
1500–1950: Die Ära der Behirtung
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war die Beweidung der Almen durch eine enge Betreuung der Tiere geprägt. Diese Form der Weideführung war sowohl wirtschaftlich als auch ökologisch vorteilhaft und trug zur Stabilisierung der Kulturlandschaft bei (Almatlas, 2023).
Merkmale der traditionellen Weidewirtschaft
- Allmendennutzung: Weideflächen wurden gemeinschaftlich von mehreren Betrieben genutzt (Almatlas, 2023).
- Gezielte Beweidung: Hirten steuerten aktiv die Futteraufnahme, um eine gleichmäßige Nutzung der Weideflächen zu gewährleisten.
- Transhumanz: Saisonale Wanderweidewirtschaft wurde insbesondere in den Alpen und Pyrenäen betrieben (Dissertation Blaschka, 2014).
- Positive Auswirkungen auf die Landschaft: Die ständige Beweidung verhinderte die Verbuschung und sicherte eine hohe Pflanzenvielfalt (Almen aktivieren SZBG, 2023).
Während dieser Zeit war die Almwirtschaft nicht nur landwirtschaftlich, sondern auch wirtschaftlich bedeutend. Der Verkauf von Fleisch, Milch, Käse und Wolle sicherte vielen Familien das Einkommen, während gut gepflegte Almen als Grundlage für den aufkommenden Bergtourismus dienten (Almatlas, 2023).
1950–2000: Umstellung auf Freibeweidung und ihre Folgen
Nach dem Zweiten Weltkrieg führte eine Reihe von wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen zu einer weitreichenden Aufgabe der traditionellen Behirtung:
- Mechanisierung und Industrialisierung: Traktoren und verbesserte Stallhaltung reduzierten die Notwendigkeit der Almwirtschaft (Praxishandbuch Wiederbelebung Almen, 2023).
- Abwanderung aus den ländlichen Regionen: Viele Betriebe wurden aufgegeben, und der Arbeitskräftemangel in der Almwirtschaft nahm zu (Almen aktivieren SZBG, 2023).
- Freibeweidung als kosteneffiziente Alternative: Tiere wurden ohne tägliche Betreuung auf großen Flächen gehalten, was die Arbeitskosten reduzierte (Guggenberger et al., 2023).
Statistiken zum Rückgang der Almwirtschaft
- Rückgang der bewirtschafteten Almen in Österreich: Von 10.819 (1952) auf 8.396 (2013) (Almatlas, 2023).
- Verlust der Almfutterfläche: Rückgang von 1.721.201 ha (1952) auf 342.087 ha (2013) – ein Rückgang um fast 80 % (Praxishandbuch Wiederbelebung Almen, 2023).
- Rückgang der aufgetriebenen Schafe: Von 365.250 (1995) auf 339.238 (2000) (Hirten_Almen_Behirtung_erforderlich, 2023).
Die Folgen waren drastisch:
- Verbuschung und Wiederbewaldung: Viele Almen wurden durch Sukzession von Sträuchern und Bäumen überwachsen (Artenschutz & Ökosystemleistungen, 2023).
- Verlust der Biodiversität: Der Rückgang der Beweidung führte zu einer Abnahme von Offenlandhabitaten, die für viele seltene Pflanzen- und Tierarten wichtig sind (Guggenberger et al., 2023).
- Sinkende touristische Attraktivität: Verwilderte Almen verloren an landschaftlichem Reiz, was sich negativ auf den Tourismus auswirkte (Almen aktivieren SZBG, 2023).
2000 bis heute: Die Wiederentdeckung der gelenkten Weideführung
Angesichts der ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen wird die gelenkte Weideführung zunehmend als praktikable Lösung betrachtet:
Vorteile der gelenkten Weideführung
- Erhalt der Biodiversität: Studien zeigen, dass regelmäßig beweidete Flächen eine höhere Artenvielfalt aufweisen als verlassene Almen (Artenschutz & Ökosystemleistungen, 2023).
- Schutz vor Naturgefahren: Weidetiere verhindern Lawinen- und Murenabgänge, da sie die Grasnarbe stabilisieren (Grobe Abschätzung der Kosten einer Umstellung, 2023).
- Positive wirtschaftliche Auswirkungen: Bewirtschaftete Almen ziehen Wanderer und Naturtouristen an, was zu einer höheren regionalen Wertschöpfung führt (Almatlas, 2023).
Ein zusätzlicher Effekt der Behirtung ist die Verbesserung des Herdenschutzes. Während Freibeweidung ohne Aufsicht Beutegreifern ungeschützte Beute bietet, sorgt eine gelenkte Weideführung mit Hirten und gezielten Herdenschutzmaßnahmen für eine deutliche Reduktion von Wolfs- und Bärenrissen (Artenschutz & Ökosystemleistungen, 2023). Dieser Zusammenhang wird auch in einem Podcast der HBLFA Raumberg-Gumpenstein thematisiert, in dem Expert:innen die Rolle von Hirten, Hunden und gezielten Weidepraktiken als effektiven Herdenschutz analysieren (Podcast Herde, Hund und Hirt in auf der Alm, 2023, Link).
Literaturverzeichnis
- Almatlas (2023).
- Almen aktivieren SZBG (2023).
- Artenschutz & Ökosystemleistungen Guggenberger (2023).
- Blaschka, A. (2014): Mit Zähnen und Klauen: Erhalt und Wiederherstellung von Ökosystemleistungen einer alpinen Kulturlandschaft. Dissertation, Universität Salzburg.
- Grobe Abschätzung der Kosten einer Umstellung der nationalen Almschafhaltung auf gelenkte Weideführung (2023).
- Guggenberger, T. et al. (2023): Herdenschutz und Beweidungsmanagement in den Alpen. HBLFA Raumberg-Gumpenstein.
- Hirten_Almen_Behirtung_erforderlich (2023).
- Praxishandbuch Wiederbelebung Almen (2023).
- Podcast Herde, Hund und Hirt in auf der Alm (2023), HBLFA Raumberg-Gumpenstein.